buddy hat geschrieben:Könnten wir den Einsatz bzw. die Herleitung von F dorisch noch ein wenig besprechen?
Oberste Instanz bei der Deutung von Akkordfolgen ist
für mich das durch langjähriges intensives Konsumieren entwickelte
Gehör.
Eine solche
intuitive Entscheidung - wie hier zwischen den beiden Tönen Bb und B - klopfe ich (wenn notwendig) quasi
rückwärts auf ihre theoretische Herleitbarkeit ab.
Dieses Verfahren setzt allerdings voraus, dass man
genau hinhört.
Wer es
andersherum handhabt, "vergewaltigt" m.E. häufig unnötig sein musikalisches Gehör.
Weiterhin muss man sich m.E. stets des Umstandes bewusst bleiben, dass es
nie um eine Entscheidung zwischen
richtigen und
falschen Tönen geht, sondern um eine solche zwischen Tönen, die eine Akkordprogression
stützen und Tönen, die eine Akkordprogression eher
verwässern oder gar stören.
Es geht also beim Bestimmen einer einem Akkord zugehörigen Skala um das Finden der (meist
sieben)
naheliegendsten Töne.
In
diesem Fall verlangt
mein Ohr nach einem Bb - was das B nicht zu einem "verbotenen" Ton macht, aber eher doch zu einem "Exoten".
Wenn ich den Wunsch meines Gehörs (nach dem Bb) theoretisch begründen will, helfen mir folgende Betrachtungen:
1. Jedes Akkord-Klischee eines Ab-Major-Akkordes wird die
große Neun (also das Bb) enthalten; die
übermäßige Neun (#9, also das
B natural) ist in einem
Major-Klang eher eine sog.
Avoid Note.
Es müsste demnach bei einer den Ton
B natural enthaltenen Ab-Dur-Skala der Akkord
Abmaj7 -avoid9 heißen, was hier nicht der Fall ist.
2. Der "Klassiker" des
Modal Interchange ist die
"Vermollung" der Subdominante.
Die Akkorde Ab-Major (Takt 3) und Cm7 (Takt 19) lassen sich bequem deuten als Derivate von Fm7 ("Slash Chords"), also der vermollten Subdominante von C-Dur:
Takt 3: Fm7/Ab - F moll 7 über (Basston) Ab
Takt 19: Fm7/C - F moll über (Basston) C
Wenn man sich dieser Deutung anschließen möchte, erklingt also in Takt 3 von A- und B-Teil
F dorisch.
Immerhin wird dir ja aber der Ton
B natural in Takt 4 des A-Teils im Zuge der Tritonussubstitution der Dominante als Septime
Cb noch kurz "nachgereicht", was eine schöne
Guide Line ergibt.
Ich wiederhole nochmals: Für jemanden, dessen Gehör zu der Entscheidung solcher Fragen noch nicht in der Lage ist, sind solche Überlegungen
mit allerhöchster Vorsicht zu genießen, weil sie das Gehör u.U.
unsensibel machen.
Wer sich in erster Linie gern mit komplexen theoretischen Strukturen beschäftigt, ist m.E. bei den
Naturwissenschaften wesentlich besser aufgehoben.
Aber das scheint dir ja - mit Blick auf deine aktuelle Signatur -
bewusst zu sein.
.
Rausgehen ist wie Fenster Aufmachen, nur viel krasser.